Im Interview: Emil Benesch vom Österreichischen Behindertenrat

Um bei der Klimawende alle dabei zu haben, gilt es auf die Bedürfnisse der einzelnen Bevölkerungsgruppen genauer hinzuschauen. Diesmal im Fokus: Menschen mit Behinderung(en)

Foto: ÖBR/Lukas Ilgner

Was ist die Aufgabe vom Österreichischen Behindertenrat?

Der Österreichische Behindertenrat tritt für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich ein. Er ist die Interessenvertretung für 1,4 Millionen Menschen mit Behinderungen in Österreich und setzt sich national und international für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein. Der Österreichische Behindertenrat vertritt als Dachorganisation mehr als 85 Mitgliedsorganisationen in Österreich.

Wie hilft der Österreichische Behindertenrat im Bezug auf Klimaschutz bzw. Klimawandelanpassung?

Der Behindertenrat setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft umfassend teilhaben können. Neben inklusiven Kindergärten, Schulen und Universitäten und einem inklusiven Arbeitsmarkt ist Barrierefreiheit eine Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe.
Es geht darum, Menschen mit Behinderungen nicht zu behindern. Ein Beispiel: Wenn E-Ladestationen nicht barrierefrei errichtet werden, wird Personen, die einen Rollstuhl nutzen, die Möglichkeit genommen, auf ein E-Auto umzusteigen.
Fehlt die barrierefreie Gestaltung, werden 1,4 Millionen Menschen mit Behinderungen in Österreich vom Umstieg auf eine klimaverträgliche Lebensweise ausgeschlossen, außerdem beim Schulbesuch und am Arbeitsmarkt behindert. Der Österreichische Behindertenrat setzt sich folglich dafür ein, dass Menschen mit Behinderungen dieselben Chancen und Teilhabemöglichkeiten haben wie Menschen ohne Behinderungen.
Konkret bedeutet das: Alle Planungen, Maßnahmen und Veränderungen, die im Sinne des Klimaschutzes erfolgen, müssen barrierefrei und inklusiv sein. Erfolgreicher Klimaschutz ist ohne Inklusion nicht denkbar.
Der Behindertenrat setzt sich insbesondere auch für eine inklusive Mobilitätswende ein. Für barrierefreie öffentliche Räume, barrierefreien öffentlichen Verkehr und Barrierefreiheit in der E-Mobilität.
Menschen mit Behinderungen sind vom Klimawandel besonders stark betroffen. Hitzewellen belasten Menschen mit chronischen Erkrankungen und Menschen mit psychischen Erkrankungen außerordentlich.
Im Katastrophenfall selbst zählen Menschen mit Behinderungen zu den ersten und häufigsten Opfern. Sie werden in der Vorbereitung auf Katastrophen nicht beachtet und sind im Katastrophenfall auf sich allein gestellt.


Der österreichische Behindertenrat setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Behinderungen bei Klimawandelanpassungen und im Katastrophenschutz sichtbar, beachtet und eingebunden werden.
In einem Projekt mit Geosphere und der Region Pinzgau wird jetzt erarbeitet, was es braucht, um Menschen mit Behinderungen im Falle von Starkregenereignissen, Murenabgängen und Stromausfällen vor Schäden zu bewahren. Bei der kontinuierlichen Weiterentwicklung des Wiener Hitzeaktionsplanes wiederum ist der Behindertenrat im Rahmen eines periodischen Monitoring- und Evaluierungsprozesses beteiligt.

Wo gibt es Verbesserungsbedarf?

Das Wichtigste wäre die systematische, rechtzeitige Beachtung von Menschen mit Behinderungen und ihren Anforderungen. Dann könnten Fehlentwicklungen wie bei den E-Ladestationen vermieden werden, wo über 10 Jahre in ganz Österreich tausende E-Ladestationen gebaut werden, die von Personen mit Rollstuhl oder kleinwüchsigen Personen nicht verwendet werden können. Weil die Armaturen zu hoch montiert und die Zugänglichkeit der Ladesäule durch Randsteine und nicht berollbare Untergrunde nicht gegeben ist. Darüber hinaus machen die meisten Apps keine Angaben zur Barrierefreiheit von Ladestationen.

Den großflächigen Versiegelungen der letzten Jahrzehnte jetzt mit dem verstärkten Einsatz von Rasengittersteinen zu begegnen, zeigt, dass die Barrierefreiheit noch jederzeit schnell über Bord geworfen werden kann. Rasengittersteine sind nicht berollbar und für viele Menschen eine Barriere. Statt Ideen aus den 70er-Jahren großflächig auszurollen, sollten bessere Lösungen gesucht werden. Wo Forschungsbedarf erkannt wird, sollte Forschung zu zukunftsverträglichen Lösungen führen. Wie können wassergebundene Decken berollbar ausgeführt werden? Wie können Klimawandelanpassung und Inklusion gemeinsam bedacht und optimiert werden?

Im Angesicht des Klimanotstands, sowie aus ökonomischen und sozialen Gründen, können wir uns das Ignorieren von Menschen mit Behinderungen längst nicht mehr leisten. Das erforderliche Bewusstsein für inklusive Planungsprozesse zur Schaffung barrierefreier Lösungen für alle kann durch vermehrte Anstellung von Menschen mit Behinderungen durch ihre Einbindung in Gremien vor Ort oder durch den Zukauf von Expertise gewonnen werden. Die Basis für Bewusstsein und gesellschaftliche Inklusion wird insbesondere in Kindergarten und Schule gelegt. Entsprechender groß und bedeutsam ist der Verbesserungsbedarf zur Schaffung eines inklusiven Bildungssystems.

Im Bereich Klimawandelanpassung und Teilhabe sind dringend die Katastrophenhilfegesetze der Länder zu überarbeiten. Menschen mit Behinderungen und Barrierefreiheit kommen hier bislang nicht vor. Gleiches gilt für die Katastrophenpläne der Bezirke und Gemeinden in Österreich. Menschen mit Behinderungen sind hier kein Thema. Viele Pläne liegen zudem nicht öffentlich auf. Dadurch fallen die Mängel der Katastrophenplanungen erst beim nächsten Not- und Katastrophenfall auf. In Form hoher Opferzahlen unter Menschen mit Behinderungen. Das müsste nicht sein und muss sich ändern.

Wo gelingt die Verbindung von Klimaschutz und Chancengleichheit gut?

Ein gutes Beispiel dafür, wie Klimaschutz durch Partizipation zu mehr Inklusion führen kann, ist der neue ÖBB Railjet von Siemens. Über 5 Jahre lang hat die inklusive Planungsgruppe des Behindertenrates bei der Entwicklung unterstützt. Seit Anfang April können Gemeinden in Tirol vom neuen Fernverkehrszug tagsüber auf der Verbindung München – Innsbruck – Bozen – Verona – Bologna profitieren.
Wie barrierefrei ist der neue ÖBB Railjet? – YouTube

Foto: ÖBB/Iwo Klimczak – Die Sitzplatzmarkierungen im neuen ÖBB Railjet sind tastbar und visuell kontrastreich ausgeführt.

Hohe Standards der Barrierefreiheit weisen auch die neuen Bahnhöfe der ÖBB auf. Sie können in ganz Österreich dazu genutzt werden, um in den Gemeinden für Barrierefreiheit zu sensibilisieren und dazu beitragen, Maßnahmen zur Verbesserung der Barrierefreiheit ausgehend vom Bahnhof ins Gemeindegebiet zu bringen (durchgehend barrierefreie Wege, barrierefreie Infobereitstellung, visuell taktile Leitsysteme).


Für die letzte Meile von der Haltstelle nach Hause oder von zu Hause zum Arzt oder auf die Gemeinde gibt es in immer mehr Regionen den „Postbus Shuttle“. Die Postbus AG ist mit dem „Postbus Shuttle“ ebenfalls bemüht dafür, klimafreundliche Mobilität für alle anzubieten. In 8 von 10 „Postbus Shuttle“ Regionen sind heute Fahrzeuge im Einsatz, die mobilitätseingeschränkte Personen transportieren können. Ab Herbst 2024 sollen alle 10 Regionen barrierefreie Angebote haben. Die Mobilregion Mödling informiert, wie mobilitätseingeschränkte Personen das Angebot nutzen können.


Die klimafreundlichste Art der Fortbewegung ist es zu gehen bzw. Gehbereiche zu nutzen. Gehbereiche sicher und barrierefrei zu gestalten ist demnach besonders wichtig. Ziel sind ausreichend breite, hindernisfreie, gut berollbare Gehbereiche, die von Radwegen abgegrenzt sind und wo sich blinde Menschen an gegeben Strukturen oder einem tastbaren Leitsystem orientieren können. Der Behindertenrat unterstützt die MA 28 in Wien bei der Optimierung der internen Regelungen zu visuell taktilen Leitsystemen zur Verwendung von Kontrasten bei der Gestaltung im öffentlichen Raum zwecks Vermeidung von Zusammenstößen von sehbehinderten Personen mit Straßenmobiliar wie Sitzgelegenheiten, Blumenbeeten etc.

Foto: ÖBR/Emil Benesch – Kantenschutz an Verkehrsschildern beugt Unfällen mit schweren Schnittverletzungen vor und trägt zur Sicherheit im Gehbereich bei.

Positiv ist zu erwähnen, dass für erdgebundene Fassadenbegrünungen und Tröge im öffentlichen Raum seitens der Stadt Wien in Zusammenarbeit interne Regelungen ausgearbeitet worden sind, um für blinde Menschen die sichere und gefahrlose Orientierung mit Langstock im verstärkt begrünten Stadtraum sicherzustellen.

Können Sie zum Thema passende Publikationen empfehlen?

Besonders empfehlenswert und überall anwendbar sind die Erkenntnisse einer BOKU-Studie zur Bewertung der Berollbarkeit von Straßenbelägen im Auftrag der MA 28. Demnach besonders gut berollbar ist der Platz rund um den Wiener Stephansdom. Kopfstein Großpflaster und Kopfstein Kleinpflaster hingegen müssen weitestgehend als nicht barrierefrei berollbar eingestuft werden. Kriterien für barrierefrei berollbare Pflasterflächen sind die Verwendung von Betonwerkstein oder Naturwerkstein Granit, geschnitten und sandgestrahlt, ein Verlegen im Reihenverband mit einer Fugenbreite bis 10 mm und einer Fugentiefe von bis zu 5 mm und einem Plattenformat über 150 cm2. Werden die Kriterien in der Praxis angewandt, können in allen Gemeinden bestens berollbare öffentliche Räume geschaffen werden. Von berollbaren Straßenbelägen profitieren besonders Personen, die einen Rollator oder Rollstuhl nutzen, Menschen mit Kinderwägen, aber auch blinde Personen mit Langstock. Berollbarkeit von Straßenbelägen in Wien – Studie Die relevanten Kriterien sind der Zusammenfassung auf S. 139 zu entnehmen. In Sachen Klimawandelanpassung ist der Wiener Hitzeaktionsplan zu empfehlen.

2022 hat der Behindertenrat eine Konferenz zum Thema „Klimakrise – ohne uns keine Zukunft“ organisiert. Was waren die Erkenntnisse dieser Klimakonferenz?

Die Botschaft der Klimakonferenz war und ist: Ohne der 1,4 Mio. Menschen mit Behinderungen, die in Österreich leben, ist die Klimakrise nicht lösbar. Menschen mit Behinderungen sind sozusagen in der Löschkette zur Klimakrise unverzichtbar. Inklusion und Klimaschutz gleichzeitig, Hand in Hand, zu realisieren, dafür hat sich Bundespräsident Alexander Van der Bellen ausgesprochen.

Foto: ÖBR/Lukas Ilgner

Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb hat ihrerseits mit einer neuen Idee überrascht. Sie empfiehlt von Menschen mit Behinderungen zu lernen. Menschen mit Behinderungen könnten der Gesellschaft Mut zur Veränderung machen und lehren, wie mit Begrenzungen umgegangen werden kann. Tom Shakespeare, von „Licht für die Welt“ in London, hat in seiner Rede zur Konferenz die Notwendigkeit des gemeinsamen Handelns hervorgehoben: „Wir müssen von behinderten Menschen lernen. Und behinderte Menschen müssen, wie alle anderen auch, lernen. Wir sind einem besonderen Risiko des Klimawandels ausgesetzt, wir werden uns an der Seite aller anderen für Veränderungen einsetzen müssen.“
Link: Fachkonferenz „Klimakrise: Ohne uns keine Zukunft. Menschen mit Behinderungen können und wollen eine Rolle im Umgang mit der Klimakrise spielen“ – Österreichischer Behindertenrat

Sie sind auch für die Koordination der inklusiven Planungsgruppe des Österreichischen Behindertenrat zuständig. Wer ist in dieser Gruppe vertreten und welche Ziele und Aufgaben hat diese Planungsgruppe?

Die inklusive Planungsgruppe des Behindertenrates hat umfassende Barrierefreiheit zum Ziel. Die Planungsgruppe hat sich im Bewusstsein gebildet, dass Barrierefreiheit nicht zufällig entsteht, sondern nur in einem bewusst gestalteten Prozess. In diesem Prozess kommt der frühen, kontinuierlichen und respektvollen Einbindung von Expertinnen und Experten mit Behinderungen eine entscheidende Rolle zu. Die Expertinnen und Experten mit Behinderungen der Planungsgruppe bringen zusätzlich zu ihrer persönlichen Expertise das Erfahrungswissen ihrer Organisationen ein.


Die Organisationen sind BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben, BKMF – Bundesverband kleinwüchsiger Menschen und ihrer Familien, der Blinden und Sehbehindertenverband Österreich und Wien/NÖ/Bgld, das Forum Lichterkette – die Betroffenenvertretung für Menschen mit psychischer Erkrankung, die Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs, der Österreichische Gehörlosenbund ÖGLB, das „Selbstvertretungszentrum Wien“ von und für Menschen mit Lernschwierigkeiten, der ÖSB – Österreichischer Schwerhörigenbund Dachverband, der ÖZIV Bundesverband, der Österreichische Amputiertenverband und der Verein Blickkontakt.

Welche gesetzlichen Rahmenbedingungen müssen sich Ihrer Ansicht nach ändern?

Es benötigt gesetzliche Rahmenbedingungen, die die Barrierefreiheit aller Produkte und Dienstleistungen sicherstellen. Initiativen von Blindenverbänden aus der Schweiz, Deutschland und Österreich wie jene für barrierefreie, moderne und energiesparende Haushaltsgeräte belegen, dass entsprechende Rahmengesetzgebungen auf europäischer sowie nationalen Ebenen ausständig sind.
Barrierefreie Haushaltsgeräte | Broschüren | Information | BSVÖ – Blinden- und Sehbehindertenverband Österreich (blindenverband.at)
Die Barrierefreiheit muss zudem als Voraussetzung für Förderungen durch die öffentliche Hand festgelegt, eingefordert und nachgewiesen werden. Im Bereich Klimawandelanpassung und Teilhabe sind dringend die Katastrophenhilfegesetze der 9 Länder zu überarbeiten und auf einem hohen Standard zu harmonisieren. Damit es nicht von der Postleitzahl oder einer Bundesländergrenze abhängt, ob Menschen mit Behinderungen mit einer Vorsorge für Hitzewellen oder einer Warnung und Evakuierung im Katastrophenfall rechnen können oder nicht.

Welche Wünsche gibt es von Ihrer Seite für mehr Chancengleichheit im Klimabereich? Gibt es ein zentrales Anliegen?

Wichtig wäre die systematische Berücksichtigung und Schaffung von Barrierefreiheit. Es sollte normal werden die Anforderungen von 20 % der Bevölkerung mit zu bedenken und nichts zu entwickeln, das Menschen mit Behinderungen ausschließt. Der Partizipation kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Das zentrale Motto im Projekt Gleich.wandeln ist ein „Gutes Klima für ALLE“. Eine Erweiterung der Perspektive im Sinne von Inklusion und Menschen mit Behinderungen könnte lauten: „Gutes Klima durch ALLE“

ZUR PERSON

Foto: ÖBR/Lukas Ilgner

Emil Benesch koordiniert im Österreichischen Behindertenrat die inklusive Planungsgruppe und ist für den Themenbereich Barrierefreiheit zuständig. Er war für die Klimakonferenz des Behindertenrates hauptverantwortlich und ist Ansprechperson für das Themenfeld Menschen mit Behinderungen und Klimakrise.